Fortsetzung von DER ENGLISCHE GRUSS (2 / 9)
Deshalb, um diesen ihren dreifachen Vorzug vor den Engeln
anzudeuten, wollte der Engel ihr seine Ehrfurcht bezeigen; und deshalb sprach
er zu ihr: „Sei gegrüßt“. So übertraf also die allerseligste Jungfrau die Engel
in diesen drei Punkten, — und zwar erstens in Bezug auf die Fülle der Gnade,
die ihr in reichlicherem Masse als irgendeinem Engel zuteil geworden. Um nun
dieses anzudeuten und sie dafür zu ehren, fügte der Engel bei:
Du bist voll der Gnade
Es will das soviel sagen, als wenn er gesagt hätte: „Ich
bezeige dir deswegen meine Ehrfurcht, weil du an Fülle der Gnade mich
übertriffst“.
Die allerseligste Jungfrau wird aber in dreifacher Beziehung
„voll der Gnade“ genannt.
1. In Beziehung auf ihre Seele, welche die ganze Fülle der
Gnade besaß. —
Die Gnade Gottes wird nämlich zu einem doppelten Zwecke
verliehen, nämlich um das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Und in diesen
beiden Beziehungen besaß die seligste Jungfrau die vollkommenste Gnade. Denn
erstens hat sie jede Sünde mehr gemieden, als irgendein Heiliger nach
Christus... Die Sünde ist nämlich entweder eine schwere oder eine lässliche,
und von diesen beiden war sie frei. Darum sagt die Heilige Schrift von ihr: „Du
bist ganz schön, meine Freundin, und keine Makel ist an dir“ (Cantic 4, 7). Und
der hl. Augustinus schreibt in seinem Buche von der Natur und Gnade: „Wenn alle
Heiligen in ihrem Leben befragt worden wären, ob sie ohne Sünde seien, so
würden sie einstimmig geantwortet haben“: „Wenn wir sagten, wir haben keine
Sünde, so betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1 Joh. 1.
8).
„Hievon aber nehme ich aus die heilige Jungfrau, welche ich,
wenn von der Sünde die Rede ist, wegen der Ehre des Herrn nicht einmal erwähnt
wissen will. Denn wir wissen, dass derjenigen, die den sündelosen Heiland
empfangen und gebären sollte, zum allseitigen Siege über alles Böse ein größeres
Maß von Gnade zugeteilt worden (als irgend einem andern Geschöpfe)“.
Maria hat aber auch alle Tugenden (gleichermaßen) geübt, die
anderen Heiligen dagegen besonders irgendeine einzelne; so der eine die Demut,
ein anderer die Keuschheit, ein dritter die Barmherzigkeit. Und so werden sie
mehr als Vorbilder einzelner Tugenden uns vorgestellt; wie z. B. der hl.
Nikolaus, als Vorbild der Barmherzigkeit usf. Die allerseligste Jungfrau
dagegen ist ein Vorbild aller Tugenden; sie ist ein Muster der Demut: „Siehe,
ich bin die Magd des Herrn“ (Luc. 1. 38); und: „Er hat angesehen die Niedrigkeit
seiner Magd“ (Luc. 1. 48); das Urbild der Keuschheit, „denn ich erkenne keinen
Mann“, und so betreffs jeder anderen Tugend, wie leicht nachgewiesen werden
könnte.
(aus: Katechismus des hl. Kirchenlehrers Thomas von Aquin)
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